Die Sprache der Physik

BLOG: Die Natur der Naturwissenschaft

Ansichten eines Physikers
Die Natur der Naturwissenschaft

Man bezeichnet die Naturwissenschaften oft als exakte Wissenschaften. Damit  meint man wohl, dass in diesen  Begriffe und Hypothesen exakter definierbar sind und so Schlussfolgerungen auch zwingender sein können. Das ist in der Tat der Fall, und die Wissenschaft, die in diesem Sinne in einem Höchstmaß exakt ist, ist die Physik. Das verdankt sie ihrem Forschungsgegenstand und der Sprache, mit der sie ihre Hypothesen und die daraus sich ergebenen Folgerungen formulieren kann. Diese Sprache ist die Mathematik. Diese ist nicht erst im Laufe der Geschichte zur Sprache der Physik geworden, sie war konstituierend bei der Geburt der Physik, der ersten Naturwissenschaft. Galilei war es, der  als erster entdeckte, dass Strukturen und Regelmäßigkeiten in der Natur in dieser Sprache zu fassen sind, und er wusste, dass er damit eine ganz neue Art von Wissenschaft erfunden hatte, mit der die Menschheit beim Nachdenken über die Natur "Boden unter die Füße" bekam:  Aus der Naturphilosophie wurde Physik.

Ich will auf einer kurzen Reise durch die Geschichte der Physik zeigen, welche Rollen die Mathematik als Sprache in der Physik gehabt hat und noch heute hat.

Am Anfang der Physik haben die Menschen zunächst das nahe liegende untersucht. Das war zu allererst die Bewegung. Es galt ihre Relativität zu entdecken wie auch zu verstehen, unter welchen Umständen Bewegung verändert werden kann. Galilei legte die Grundlagen, und Newton fand ein Konzept für die Aufstellung mathematischer Gleichungen für die Bewegung materieller Körper, nachdem er auch noch die angemessenen mathematischen Methoden für die Behandlung solcher Gleichungen, die Differentialrechnung, entwickelt hatte. Damit feierte diese neue Methode von Galilei schon etwa 70 Jahre nach ihrer Erfindung ihren ersten großen Triumph. Ausgangspunkt waren ein paar Prinzipien für die Aufstellung von mathematischen Gleichungen für die Bewegung, eine Annahme über die Kraft, die den Einfluss zweier Körper auf einander beschreibt, und schon konnte man mit den nötigen mathematischen Kenntnissen exakt folgern, wie die Bewegung je nach Startbedingungen aussehen muss. So verstand man die Bewegung der Planeten um die Sonne, konnte Sonnenfinsternisse und das Wiedererscheinen von Kometen vorhersagen und bald eine jegliche Bewegung im Voraus berechnen, auch wenn sie auf noch so komplizierte Weise von äußeren Bedingungen eingeschränkt wird. Den Lauf der Welt schien man nun auf diese Weise vorhersagen zu können.

Bald zeigte sich aber, dass man bei anderen Phänomen wie bei elektrischen und magnetischen Effekten ganz andere Begriffe einführen musste; das Grundprinzip blieb aber weiterhin erfolgreich: Der Ausgangspunkt einer Theorie für elektrische und magnetische Phänomene war auch eine mathematische Gleichung, aus der alle Aussagen über elektrische und magnetische Effekte mathematisch exakt abgeleitet werden konnten. Und die Theorien, die im Laufe der Entwicklung der Physik für weitere Phänomenbereiche wie für Gase und Flüssigkeiten, für Atome, deren Konstituenten und für die so genannten "Elementarteilchen", aber auch für den Kosmos als ganzem entstanden, sind alle von dieser Art: Ausgangspunkt ist ein Ausdruck in mathematischer Sprache, eine Grundgleichung oder ein Satz von Grundgleichungen und auch die Folgerungen daraus kann man in mathematischer Sprache ziehen. Wer Physik betreiben will, muss in dieser Sprache lesen, schreiben und denken können.

Die Mathematik ist aber nicht nur die Sprache, in der man in der Physik präzise formuliert und folgert, man kann sich in dieser Sprache auch dazu inspirieren lassen, neue Gesetze der Natur zu postulieren, also Zusammenhänge vermuten, auf die man experimentell noch gar nicht aufmerksam geworden ist. So folgerte der schottische Physiker Maxwell, nachdem er die damaligen Kenntnisse über elektrische und magnetische Phänomene in den später nach ihm benannten Grundgleichungen der Elektrodynamik zusammengefasst hatte, allein aus diesen mathematischen Gleichungen, dass es so etwas wie elektromagnetische Wellen geben muss und dass das Licht auch aus solchen Schwingungen bestehen würde. In der Tat fand Heinrich Hertz 20 Jahre später diese Wellen und heute ist eine Welt ohne die Nutzung dieser Wellen kaum noch vorstellbar.

Diese Entdeckung der elektromagnetischen Wellen bedeutete die endgültige Etablierung der Maxwellschen Theorie. Eine konkurrierende Theorie, die insbesondere von dem Göttinger Physiker Weber propagiert wurde und keine solche Wellen voraussagte, geriet in Vergessenheit.

Nicht den Endpunkt der Bildung einer großen Theorie, sondern den Anfangspunkt sogar eines ganz neuen Zweiges der Physik stellte eine andere Hypothese dar, die allein aufgrund mathematischer Zusammenhänge aufgestellt wurde. Man hatte Ende des 19. Jahrhunderts bald verstanden, dass alle Körper elektromagnetische Wellen absorbieren, aber auch abstrahlen, denn die im Körper befindlichen elektrischen geladenen Teilchen befinden sich ständig in Bewegung, und jede beschleunigte Bewegung von Ladungsträgern führt zur Abstrahlung von elektromagnetischen Wellen. Die Wärmestrahlung, die man von erhitztem Eisen oder Porzellan kannte, fand so ihre Erklärung wie auch die wärmende Wirkung der Sonnenstrahlung: das alles sind elektromagnetische Wellen. Und schon vorher hatte man festgestellt, dass im Idealfall die Energie der Strahlung nur von der Frequenz und der Temperatur der Wände des Körpers abhängen kann und es war nun die große Frage, wie denn nun diese  Abhängigkeit aussieht und wie diese dann zu begründen ist.

Max Planck, ein damals noch nicht sehr bekannter Physiker, hatte sich in dieses Problem verbissen. Er fand die Lösung in zwei Schritten, die jeweils ein Paradebeispiel für die inspirierende Funktion der Mathematik in der Physik sind.

Zunächst konzentrierte er sich auf den formalen mathematischen Ausdruck für die Intensität der Strahlung als Funktion der Frequenz und der Temperatur. Es gab schon solche Formeln, aber zwei sehr unterschiedliche, die mit den Experimenten nur jeweils für sehr hohe bzw. sehr niedrige Frequenzen verträglich waren. Diese waren wie Anfang und Ende eines Satzes – in der mathematischen Sprache natürlich –  und Planck fand gewissermaßen durch ein sehr intelligentes "Raten" einen Mittelteil, so dass der ganze Satz einen richtigen Sinn ergab, d.h. er fand einen mathematischen Ausdruck, der, wie sich schnell zeigte, für sehr hohe bzw. sehr niedrige Frequenzen jeweils in die zwei bisher bekannten Formeln überging, aber nun für alle Frequenzen und Temperaturen mit den Experimenten übereinstimmte.  

Damit war die berühmte Plancksche Strahlungsformel geboren, aber noch nicht verstanden. Verstehen heißt hier: die Strahlungsformel aus den bekannten Gesetzen der Elektrodynamik und Thermodynamik ableiten können. Dieser nun wesentliche, zweite Schritt wollte Planck zunächst gar nicht gelingen, bis er "in einem Akt der Verzweiflung", wie er nachträglich bekannte, mithilfe einer Methode seines Kollegen Ludwig Boltzmann, die er bisher immer verachtet hatte, eine Ableitung dieser Formel fand. Zu seiner Verblüffung musste er dabei aber feststellen, dass er dabei eine folgenschwere Annahme machen musste: Die Objekte in den Wänden des Körpers sollten bei der Abstrahlung von elektromagnetischen Wellen ihre Energie nur "paketweise" abgeben können, und zwar musste die Energie eines jeden Pakets, bald auch Quant genannt, gleich einer Konstanten multipliziert mit der Frequenz der Strahlung sein. Diese Hypothese sollte sich im Folgenden als unerhört fruchtbar erweisen und zum Schlüssel für das Verständnis des Aufbaus der Materie werden.

Die Mathematik ist also nicht nur die Sprache, in der die Grundgesetze der Physik formuliert und in der andere Gesetze daraus abgeleitet werden. Sie ist auch die Sprache, in der man zu neuen Hypothesen über die Natur geführt werden kann.  Aber nicht nur zu neuen Hypothesen – und nun komme ich zur bedeutendsten Funktion dieser Sprache: auch zu neuen Begriffen. Um das zu erklären, muss ich ein wenig ausholen.

Die Themen der Physik in der klassischen Zeit waren die Bewegung, die elektromagnetischen Erscheinungen und auch die Wärme. Bei diesen Themen ging es immer um die Dinge, die man von der Anschauung her kennt und mit denen man persönliche Erfahrungen machen kann. Auch wenn man Planeten nicht anfassen kann, die Aussage, dass deren Bahnen Ellipsen sind, kann man sich gut vorstellen, weil wir eine Ellipse oft gesehen haben, ja sie sogar zeichnen können. Alle Bilder, die wir uns von den Dingen machen, enthalten Objekte oder Prozesse, die wir aus dem Alltag in irgendeiner Form kennen. Nur so scheinen wir etwas zu verstehen, eben nur dann, wenn wir es auf etwas Bekanntes zurückführen können.

Wenn wir heute die Welt der Dinge einteilen in eine Welt der größten Dimensionen, in der es Galaxien und eine gekrümmte Raumzeit gibt, in eine Welt der kleinsten Dimensionen – der Welt der Atome und deren Bausteine – und schließlich in eine Welt der mittleren Dimension, in der wir Menschen leben und agieren, dann sind es also die Phänomene der Welt der mittleren Dimension, die in der klassischen Zeit der Physik erforscht wurden. Alle unsere Bilder und Vorstellungen stammen aus dieser Welt der mittleren Dimension.

Ende des 19. Jahrhunderts wurde die heile Welt der klassischen Physik in Frage gestellt. Man entdeckte immer mehr Phänomene aus der Welt der kleinsten Dimension, auf die man sich mit den Kenntnissen und Vorstellungen aus der Welt der mittleren Dimension keinen Reim machen konnte. Woraus besteht die Flüssigkeit, die den elektrischen Strom verursacht? Gibt es Atome, wenn, ja, wie sehen sie aus, wie sind sie aufgebaut?

Bei diesem Eintreten der Physiker in die Welt der kleinsten Dimension mussten sie mühsam lernen, dass ihre Vorstellungen und Bilder der mittleren Dimension, zwar geschärft durch die klassische Physik und präzisiert durch die mathematische Sprache, nicht mehr unbedingt taugen. Verständnis, soweit es die Anknüpfung an bekannte Dinge bedeutet, konnte nicht mehr gewonnen werden. Aber: Die Führung durch die Mathematik funktionierte weiter. Abstrakte mathematische Objekte reichen eben weiter als alltägliche Vorstellungen.

Mathematik ist ja die Art, mit der unser Denkorgan Strukturen analysiert oder erdenkt. Die evolutionäre Entwicklung hat wohl dafür gesorgt, dass diese denkbaren Strukturen den Strukturen der Welt entsprechen. (Mathematische Strukturen können von uns somit "leicht" gefunden werden; ich weiß nicht, ob man das "erfinden" oder "entdecken" nennen soll, siehe dazu auch "The Romance of Mathematics" von Elmar Diederichs.) Und offensichtlich haben die Menschen sich, indem sie zunächst die Welt ihrer, der mittleren Dimension mit Hilfe der Mathematik verstehen lernten, einen Schlüssel erarbeitet, der ihnen auch die anderen Welten aufschließt.

Die mathematische Sprache dabei zu völlig neuen physikalischen Begriffen, sogar zu solchen, für die es in unserer Erfahrung gar kein Vorbild gibt, wie z.B. zu dem des Quants. Experimente mit  Quanten können mit Hilfe unserer Vorstellungen aus der Welt der mittleren Dimension nicht befriedigend gedeutet werden, mal scheint ein Quant sich wie ein Teilchen zu verhalten, mal kann man das Experiment nur verstehen, wenn man sich das Quant als Welle vorstellt. In der Sprache der Mathematik aber versteht man diese Zwitternatur und kann verlässlich mit ihr umgehen.

Die Quantenmechanik, in der man auf diese Weise alle Quantenphänomene unter und auch in der Sonne deuten und berechnen kann, erlaubt auch die Bildung von so genannten „verschränkten Zuständen“  mehrerer Quanten. Man hat tatsächlich solche verschränkten Quantensysteme experimentell erzeugen können, und diese haben besonders spektakuläre Eigenschaften, die man an klassischen Objekten nie entdecken kann und die aller Erfahrung bisher fremd sind, denn grundsätzliche Fragen über den Begriff der Realität in der Welt kleinster Dimensionen wurden dadurch aufgeworfen. Das zeigt noch deutlicher, dass man die „wahre Natur“ der Natur erst auf der Ebene der Atome und Quanten kennen lernt und dass sich die Gesetzmäßigkeiten für makroskopische Objekte und Phänomene in der Welt mittlerer Dimension erst in einem bestimmten Sinne als Mittelwert ergeben – ein konkretes Beispiel für Emergenz.   

Die Mathematik ist somit auch die Sprache, in der außerhalb der Welt der mittleren Dimension allein noch verlässlich argumentiert werden kann, und sie führt uns zu neuen Begriffen, die nötig werden, um die Natur außerhalb unserer Welt der mittleren Dimension zu verstehen und zu beherrschen.

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Veröffentlicht von

Josef Honerkamp war mehr als 30 Jahre als Professor für Theoretische Physik tätig, zunächst an der Universität Bonn, dann viele Jahre an der Universität Freiburg. Er hat er auf den Gebieten Quantenfeldtheorie, Statistische Mechanik und Stochastische Dynamische Systeme gearbeitet und ist Autor mehrerer Lehr- und Sachbücher. Nach seiner Emeritierung im Jahre 2006 möchte er sich noch mehr dem interdisziplinären Gespräch widmen. Er interessiert sich insbesondere für das jeweilige Selbstverständnis einer Wissenschaft, für ihre Methoden sowie für ihre grundsätzlichen Ausgangspunkte und Fragestellungen und kann berichten, zu welchen Ansichten ein Physiker angesichts der Entwicklung seines Faches gelangt. Insgesamt versteht er sich heute als Physiker und "wirklich freier Schriftsteller".

18 Kommentare

  1. @Honerkamp: from my point of view

    Lieber Herr Honerkamp,

    in der Terminologie meines von Ihnen zitierten Artikels entspricht diese Formulierung

    “Die evolutionäre Entwicklung hat wohl dafür gesorgt, dass diese denkbaren Strukturen den Strukturen der Welt entsprechen.”

    eher einem platonischen Standpunkt, nach dem mathematische Aussagen und Objekte entdeckt und nicht erfunden werden.

    Wenn ich den Rest Ihres Artikels richtig verstehe, werden sie aber durch keine andere Ihrer Aussagen zu einem platonischen Standpunkt genötigt. Ein – von mir favorisierter – naturalistischer Standpunkt wäre auch verträglich mit folgender Aussage

    “Und offensichtlich haben die Menschen sich, indem sie zunächst die Welt ihrer, der mittleren Dimension mit Hilfe der Mathematik verstehen lernten, einen Schlüssel erarbeitet, der ihnen auch die anderen Welten aufschließt.”

    Insofern wirkt die einzige Aussage platonistischer Provenienz in Ihrem Artikel ein wenig verloren und eher unbeabsichtigt.

    In allen anderen Punkte stimmen wir überein.

  2. Schlüssel erarbeitet? /@Elmar Diederichs

    Warum nicht “gefunden”? Passende Schlüssel werden doch normalerweise gefunden. Außerdem setzt ein Schlüssel doch ein Schloss voraus, also eine Struktur der Welt, zu der der Schlüssel passt.

    Der von Ihnen “eher platonisch” genannte Standpunkt scheint mir in Wahrheit der wahre “naturalistische” Standpunkt zu sein.

    @Josef Honerkamp: Sehr schöner Blog!

  3. @Balanus: falscher Gebrauch

    “Der von Ihnen “eher platonisch” genannte Standpunkt scheint mir in Wahrheit der wahre ‘naturalistische’ Standpunkt zu sein.”

    Mir ist klar, was Sie meinen, aber in der Philosophie der Mathematik werden diese Wörter anders gebraucht, als es Ihnen intuitiv naheliegend zu sein scheint. Insofern sollten wir uns an den einmal bestehenden Sprachgebrauch halten, da er nicht irreführend ist und diejenigen Leser, sie sich selbst mit der Materie befassen möchten, gleich ins richtige Gleis der Begrifflichkeiten führt.

  4. @Diederichs: Naturalismus oder Platonismus

    In meiner Aussage “Die evolutionäre Entwicklung hat wohl dafür gesorgt, dass diese denkbaren Strukturen den Strukturen der Welt entsprechen” kommt m.E. genau die naturalistische Sicht zum Ausdruck und nicht ein platonischer Standpunkt. Es gibt in dieser Sicht eben keine eigene geistige Welt der Ideen sondern nur unser Gehirn, dessen Art zu denken durch Mutation und Selektion so geworden ist. Wenn ich nun mathematische Strukturen erfinde, tue ich diese mit meinem durch die Evolution an die Welt angepassten Gehirn, ent”decke” gewissermaßen dabei eigentlich auch diese meine besonders geartete Denkfähigkeit. Also, das Gegensatzpaar “erfunden oder entdeckt” behagt mir hier nicht, besser scheint mir das Gegensatzpaar “Naturalismus oder Platonismus” . Und da scheinen wir alle der gleichen Meinung zu sein.

  5. Kontraintuitiv? /@Elmar Diederichs

    Sind manche Begriffe der Philosophie der Mathematik tatsächlich kontraintuitiv?

    Laut Wikipedia besagt der Platonismus, dass “die mathematischen Gegenstände und Sätze losgelöst von der materiellen Welt und unabhängig von Raum und Zeit existieren, zusammen mit den anderen Ideen wie dem ‘Guten’, dem ‘Schönen’, oder dem ‘Göttlichen’.”

    Wenn das stimmt, dann wäre ein evolutionär begründetes Verständnis der Mathematik nicht als Platonismus zu bezeichnen (und meine Intuition wäre richtig gewesen ;).

  6. Er- oder gefunden?+Haydn

    Ich kann mich Josef Honerkamp und Balanus nur anschließen. Mir behagt dieser Gegensatz auch nicht wirklich, und ich finde Josef Honerkamps kritisierte Formulierung aussagekräftiger und zutreffender.

    Überhaupt kann ich die meisten bisherigen Beiträge nur loben. Einzig die Haydn-Variation muß ich kritisieren.

    Erstens ist Haydns Thema gegenüber der Nationalhymne einen halben Takt verschoben. Dadurch fallen die exponierten Melodietöne nicht auf die Taktanfänge und das Thema ist eleganter und schwebender. Zweitens stört mich das mechanische Vibrato. Besonders im Schlußakkord macht es das Gefühl,zur Tonika zurückzukehren und zu entspannen, ein wenig zunichte. Kann man das in der Musikelektronik vielleicht ein bißchen optimieren?

  7. @Jürgen Bolt: “Haydn-Variation”

    Dass Sie mein Streichquartett zum Lied “Der Mond ist aufgegangen” als Haydn-Variation gehört haben, ist ja interessant. In der Tat habe ich das Kaiserquartett im Ohr gehabt, als mir die Idee kam, dieses Streichquartett zu komponieren, und Sie haben diese Verwandtschaft offensichtlich so stark gespürt. Also, die “Verschiebung um einen halben Takt” muss wohl so sein, und natürlich ist Haydns Thema um Dimensionen schöner wie auch eine “menschliche” Aufführung sicher noch etwas schöner klingen würde. Ja, das Vibrato ist ärgerlich, das liegt aber wohl an der Zusammensetzung der Töne aus einzelnen “Samples” , deshalb tritt so etwas immer auf bei länger anhaltenden Tönen. Ich bin noch ein Anfänger in dieser Technik, vielleicht kann ich auf die Dauer da etwas erreichen.
    Ich freue mich auf jeden Fall über Ihre Reaktion, gerade auch über dieses Thema – bin gespannt, was Sie zu meiner nächsten Übung sagen werden.

  8. @Honerkamp: Der Mond ist aufgegangen

    Hoppla! Ich habs gerade nochmal gehört, der reale Mond ist tatsächlich eben aufgegangen, und ich empfinde es immer noch wie eine der wunderbaren Haydnschen Variationen. Ich fürchte, ich habe in letzter Zeit zuviele mp3s und zuwenig reale Streichquartette gehört. Ich werde mir am Wochenende mal das Programm der Kölner Philharmonie anschauen und das ändern.

    Ich freue mich, daß Sie mir meinen Fehler nachsehen, und mehr noch, daß Sie meine Bemerkung als Anregung und nicht als Abwertung verstehen.

  9. Die Sprache der Physik

    Einige Äußerungen in dem Beitrag sind nicht klar, manche sogar falsch, z.B. sind Fehler in dem Absatz: “Die Mathematik ist aber nicht nur die Sprache, in der man in der Physik präzise formuliert und folgert, man kann sich in dieser Sprache auch dazu inspirieren lassen, neue Gesetze der Natur zu postulieren, also Zusammenhänge vermuten, auf die man experimentell noch gar nicht aufmerksam geworden ist. So folgerte der schottische Physiker Maxwell, nachdem er die damaligen Kenntnisse über elektrische und magnetische Phänomene in den später nach ihm benannten Grundgleichungen der Elektrodynamik zusammengefasst hatte, allein aus diesen mathematischen Gleichungen, dass es so etwas wie elektromagnetische Wellen geben muss und dass das Licht auch aus solchen Schwingungen bestehen würde. In der Tat fand Heinrich Hertz 20 Jahre später diese Wellen und heute ist eine Welt ohne die Nutzung dieser Wellen kaum noch vorstellbar.”
    Man kann sich in der Sprache der Mathematik sicherlich zu neuen Gesetzen inspirieren lassen oder welche postulieren, usw. Aber Folgerungen aus bereits aufgestellten Gesetzen sind keine neuen Gesetze. Es ist ja gerade in der Physik wesentlich, aus Gesetzen bisher unbekannte Phänomene abzuleiten (oder zu folgern, wie es im Artikel ausgedrückt ist). Und der folgende Nachweis dieser vorher unbekannten Phänomene, Lehrsätze oder gar Theoreme bringt die wesentlichsten Bestätigungen der Theorie; wie z.B. die erwähnten elektromagnetischen Wellen, die Ablenkung des Lichtes durch Massen, und viele andere, die den Physikstudenten im ersten Studienjahr dargelegt werden.
    Eine klarere Darstellung der Begriffe wie Wissenschaft, Physik, Theorie, Gesetz, Grundbegriff, Materie und ihrer Zusammenhänge ist in der Einführung meines Heftes „Grundbegriffe der Physik“ nachzulesen.

  10. @Eschrich

    Sie scheinen sich an meinem Sprachgebrauch zu stören. Ich nenne Folgerungen aus Gesetzen wieder Gesetze, das empfinden Sie als falsch. Für Sie scheint ein Gesetz gleich ein Grundgesetz zu sein, der Anfangspunkt einer Theorie. Das wäre aber m.E. eine zu enge Definition und ist durch den normalen Sprachgebrauch nicht gedeckt: Wenn der Normalbürger von den Gesetzen der Natur spricht, meint er sicher nicht die Grundgesetze. So kann man von einer Hierarchie von Gesetzen (oder Gesetzmäßigkeiten) sprechen, an deren Spitze die Grundgesetze stehen.

  11. @Honerkamp: mein Fehler

    “Wenn ich nun mathematische Strukturen erfinde, tue ich diese mit meinem durch die Evolution an die Welt angepassten Gehirn, entdecke gewissermaßen dabei eigentlich auch diese meine besonders geartete Denkfähigkeit.”

    Ja, jetzt verstehe ich es besser. Da war ich wohl mit meinem ersten Platonismusverdacht zu schnell und zu schlampig – sorry. 🙂

  12. Insgesamt ist die gemeinsame Entwicklung von Mathematik und Physik über die letzten 400 Jahre schon eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte. Es hat aber auch ein paar Stellen, wo die Physiker offenbar nicht viel von mathematischen Weisheiten halten. Zum Beispiel bei Feynmans Pfadintegral Formalismus. Der erfreut sich ja in der Physik ausserordentlicher Beliebtheit, während man als Mathematiker davon doch erhebliche Bauchschmerzen bekommt.

    Die Pfadintegrale sind vermutlich gerade deswegen so populär, weil damit ein gewisser Rest von Anschaulichkeit in die ansonsten so bizarre Quantenwelt hinübergerettet wird. Ein Quantenpartikel stellt man sich dann ja immer noch als punktförmiges Objekt vor, nur dass es sich nicht mehr determistisch bewegt. Das klassische Bild, demzufolge ein Partikel immer irgendwie punktförmig auszusehen hat, ist aber letztlich alles andere als hilfreich. Mir ist beispielsweise keine akzeptable Deutung des Doppelspalt Experimentes mit einzelnen Partikeln bekannt, wenn die Teilchen dabei als punktförmig angenommen werden.

  13. @Chris

    Ich kann verstehen, dass Sie als Mathematiker Bauchscherzen bei den Pfadintegralen bekommen. Ich habe diese früher in der Quantenfeldtheorie häufig benutzt, wir haben diese aber nur als mnenotechnisches Hilfsmittel angesehen, mit dem wir in störungstheoretischen Rechnungen die Übersicht bewahren konnten. Physiker sind da sehr pragmatisch; was für ihre Zwecke nutzt, das benutzen sie auch. Bei den Pfadintegralen in der Quantenmechanik ist die “Begründung” bzw. Motivation für deren Einführung auch nur ein gelingender bzw. mißlingender didaktischer Kniff. Aber nirgendswo spielen diese Pfadintegrale eine unverzichtbare Rolle in der Argumentation oder Deutung. Man kann auch ohne sie Physik betreiben und erklären.

  14. @ Josef Honerkamp

    Es lassen sich freilich auch Beispiele dafür angeben, wo Mathematiker — insbesondere wenn sie sich für Physiker verständlich ausdrücken wollen — ohne allzu grosse Vorbehalte mit Pfadintegralen argumentieren. Das ist nun nicht immer falsch, nur eben mit gebotener Vorsicht zu geniessen. Feynmans Sichtweise kann je nach Fragestellung hilfreich oder hinderlich sein, dem Anton Zeilinger ist es für seine verschränkten Photonen wohl eher nicht unbedingt dienlich.

    Da es zum Thema passt, hier noch ein Link zu einer Dissertation, wo diverse Probleme der Anwendung mathematischer Methoden in der Physik (u.a. Pfadintegrale) diskutiert werden [Download]; der eine oder andere philosophisch geneigte Leser mag es vielleicht interessant finden.

  15. der Zusammenhang zwischen Mathematik und Physik

    Auf den ersten Blick erscheint es
    geheimnisvoll, dass die Mathematik
    physikalische Vorgänge so gut beschreibt.
    Aber meiner Ansicht nach liegt das nur
    darin, das die Mathematik so flexibel ist.

    Man hat so viele Strukturen und
    Möglichkeiten, dass es doch eher
    verwunderlich wäre, wenn es etwas
    regelmäßiges gäbe, das die Mathematik
    nicht beschreiben kann. Angenommen man hätte keine elektromagnetischen Wellen
    entdeckt, dann wäre Maxwells Theorie verworfen worden und die Theorie Webers,
    die sicher auch mathematisch formuliert ist, hätte den Zuschlag bekommen.
    Beide sind mathematisch formuliert,
    aber die Mathematik schreibt der Natur nicht vor, wie sie sich zu verhalten hat,
    sondern anhand der Natur werden aus der Vielzahl möglicher Theorien, die Passenden ausgewählt, da braucht man dann nicht staunen, dass am Ende die
    passend ausgewählte Theorie passt.

    Galilei hat einen wunderbar flexiblen Werkzeugkasten entdeckt, der aber von sich aus keinen Einblick in die Natur bringt.

    Meiner Ansicht sollte man deshalb nicht von einer Sprache der Mathematik reden. Die Mathematik besteht aus einem ganzen
    Haufen unterschiedlicher Sprachen, eine
    wird immer, zumindest angenähert, passen.

  16. @Nill

    als Mathematiker, der Sie vermutlich sind, sehen Sie natürlich, dass die Mathematik einer großen “Sprachfamilie” gleicht, von “außen” sehen diese Sprachen aber alle gleich aus, nämlich unverständlich.(:-)
    Aber nun zu eigentlichen Problem: Ich meine, nicht die Mathematik sondern wir Menschen mit unserem durch die Evolution – so und nicht anders – entstandenen Denkapparat sind so flexibel, dass wir immer eine Struktur finden, die auf jedes Phänomen der Natur passt. Diese “Passung” kann man ohne Berücksichtigung der Evolution gar nicht verstehen, zumindest gilt das für Phänomene aus dem Mesokosmos. Aber auch für den Mikro- wie Makrokosmos können wir offensichtlich Strukturen finden, obwohl wir uns in diesen Welten nicht bewähren mussten.
    Diese Strukturen können dann eben gegenüber den im Mesokosmos nützlichen nicht so neu sein (und sind es auch nicht, siehe Hilbertraum, nicht-Euklidische Geometrie)- und wenn wir wirklich neue Konzepte bräuchten, geht’s nicht mehr (siehe sog. Welle-Teilchen Dualismus). Wir sind eben auch nicht mehr als das, was die Evolution zu Stande gebracht hat.

  17. platonische Synaesthesie:

    Hier ist ein interessanter neuer Bericht über mit “Ideen” verknüpfte Synästhesien. Wie schön früher mal erwähnt, halte ich solche Vorgänge für den neurologischen Hintergrund dess “Platonismus” in der Mathematik.

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