Kulturelle Vererbung: Erziehung und Bildung in evolutionstheoretischer Sicht

BLOG: Natur des Glaubens

Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Zum wachsenden Netzwerk interdisziplinärer Treffen und Tagungen gehört eine Jahrestagung zur Evolutionären Pädagogik im oberbayerischen Abensberg. Die Tagung im Mai 2009 hatte sich dabei ein Thema gestellt, dass auch in diesem Blog vorgestellt (z.B. im Blogpost "Biokulturelle Evolution") und von Leserinnen und Lesern immer wieder neu diskutiert worden ist: Das Verhältnis genetischer und kultureller Vererbung. Anfang 2010 ist dazu ein Tagungsband erschienen. Eine Rezension.

Schon der erste Beitrag von Alfred K. Treml "Die Natur der Kultur" greift das zentrale Thema dabei auf: Von der Antike bis zum modernen Dualismus ist die westliche Kultur (!) vom Denken in Gegensätzen geprägt – wir meinen, Phänomene seien "entweder" Natur oder Kultur und tendieren dazu, entweder A oder B abzuwerten. In evolutionärer Perspektive aber baut Kultur immer auf natürlichen Grundlagen auf – und wirkt wiederum massiv auf diese zurück.

Entsprechend problematisiert auch Gerhard Vollmer, ob "die Evolution ihre Kinder entlassen" könne, wie es manche Thesen vom "Kulturwesen" Mensch, das sich von seiner Natur gelöst habe, anklingen lassen. Es steht zu hoffen, dass seine abgewogenen Argumentationen wenigstens einige Leserinnen und Leser dazu bringen, diese liebgewordenen Dualismen auch in der (Selbst-)Betrachtung des "aufgeklärten" Menschen zu hinterfragen.

Peter Mersch präsentiert gleich einen Komplettansatz für neue Begrifflichkeiten der Evolutionstheorie als "Systemische Evolutionstheorie". Obgleich ich an einigen Stellen Nachfragen hätte, finde ich Vorschläge wie z.B. die Ersetzung des zu engen Begriffes der "sexuellen Selektion" durch "Gefallen-wollen-Kommunikation" kreativ und bedenkenswert und werde sie gerne einmal im Rahmen eigener Arbeiten ausprobieren.

Klaus Gilgenmann schließt den Kreis von Grundsatzbeiträgen mit der Frage nach der lebenslangen Lernfähigkeit des Menschen – der natürlichen Fähigkeit zum Kulturerwerb – ein auch thematisch gekonnter Abschluss.

Holger Wille, Lothar Frank, Bettina Gerlitz und Roland Bätz beleuchten in je eigenen Kapiteln Methodenprobleme und geben u.a. der vom Aussterben bedrohten Memtheorie die (kritische) Ehre. Denn wenn die sog. Memetik auch empirisch gescheitert ist (unter anderem wegen des Fehlens von testbaren Definitionen und Hypothesen) – als Metapher zur Reflektion biologischer und kultureller Evolutionsprozesse bleibt sie noch anregend.

Das Buch rundet mit Anwendungsbezügen ab: Rolf Oerter erkundet die "Ontogenese des Geistes" und insbesondere die beeindruckende Lernfähigkeit von Kindern. Daniel Scholl verknüpft Modelle von Kooperation im Gruppenunterricht mit evolutionären Theorien der Didaktik (der Kunde vom Lehren). In der Tat ein interessanter Brückenschlag. Und Rolf Schwarz setzt noch einen drauf, in dem er evolutionäre Verhaltensstrategien (Weglaufen, Erstarren, Aufgreifen) mit Fällen des heutigen Sportunterrichtes in Beziehung setzt.

Fazit

Zu den bitteren Ironien unserer kulturellen Tradition gehört, dass wir einerseits die Welt in Gegensatzpaare aufspalten – und diese Spaltung dann beklagen. Entsprechend laut wird "Interdisziplinarität" von den Wissenschaften gefordert – und ebenso gerne die Nase über jene gerümpft, die die ehrwürdigen Gegensatzgrenzen zu überschreiten wagen. Zu oft verhalten wir uns wie Esel, die zwischen den Futtertrögen des Biologismus und Kulturalismus so lange hin und her schwanken, anstatt sie einfach zusammen zu stellen.

Die Autoren des vorliegenden Bandes wagen diese Interdisziplinarität auf unterschiedlichem Niveau und mit unterschiedlichem Ergebnis. Während ich persönlich die Knochenarbeit empirischer Feldstudien am meisten schätze, werden andere an den theoretischen Grundsatzarbeiten ihre Freude haben.

Manchmal frage ich mich, ob unsere Kultur ihr dualistisches Erbe so weit hinter sich lassen kann, dass ein tieferes Verständnis der zeitgenössischen Evolutionsforschung jenseits biologistischer Wir-sind-nur-Gene-Reduktionismen oder kulturalistischer Wir-sind-keine-Naturwesen-mehr-Flachbotschaften auch breitere Bevölkerungsschichten erreichen kann. Ja, die Realität ist komplexer und vielschichtig – vielleicht sogar so sehr, dass wir sie werden nie ganz erfassen können. Aber ist dies nicht auch eine Chance zum Weiterlernen, zum Dialog, zum Entdecken immer neuer Möglichkeiten? Den Autoren von "Kulturelle Vererbung" bin ich dankbar, dass sie den Glauben an interdisziplinäre Brückenschläge nicht verloren haben, sondern mit Leben füllen.

(Und möchte, ja muss an dieser Stelle auch einfach als entsprechendes Bloggerbeispiel den Braincast von Arvid Leyh preisen! 🙂 )

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

15 Kommentare

  1. Dualismus

    Sie sprechen von kultureller und biologischer Vererbung und wettern gleichzeitig gegen dualistisches Denken. Kann es aus evolutionärer Sicht einen grundlegenderen Unterschied geben, als getrennte Vererbungswege und -mechanismen?

  2. @ Eduard Kirschmann

    Lieber Herr Kirschmann,

    selbstverständlich halte ich eine Unterscheidung biologischer und kultureller Traditionswege für unerläßlich. So geben Menschen biologische Traditionen (nur) via Fortpflanzung weiter, kulturelle dagegen via Lehren, Lernen, Imitation.

    Im Gegensatz zum klassischen Dualismus liegt hierbei jedoch kein Gegensatz vor, sondern eine hochkomplexe Wechselwirkung. Dass wir einerseits natürliche Anlagen zum Sprechen haben und kulturelle Ausformungen von Sprachen, Dialekten etc. ist ja kein Gegensatz, sondern eine sich aufschaukelnde Interaktion: Ohne die kulturellen Sprachen wären die biologischen Grundlagen nicht adaptiv, ohne die biologischen Grundlagen die Kulturprodukte nicht möglich.

    Also wissenschaftliche Unterscheidung: Ja, den Verweis in vermeintlich getrennte Welten: Nein.

  3. Getrennte Welten

    Lustig, Herr Kirschmann hat spontan den gleichen Einwand gebracht wie ich seinerzeit (wenn ich mich recht erinnere). Wobei ich allerdings den Standpunkt vertrete, man könne, aus evolutionstheoretischer Sicht, die Begriffe “kulturelle” oder auch “biokulturelle Evolution” in die Tonne treten (um es mal drastisch zu formulieren). Weil sie den Blick auf eine einheitliche, umfassende Evolutionstheorie nur verstellen.

    Wer hat eigentlich den Begriff “kulturelle Evolution” geprägt und damit “getrennte Welten” eingeführt?

  4. Sprache @ Michael Blume

    Habe ich etwas verpaßt? So weit mir bekannt, existiert noch keine allgemein anerkannte Theorie zu der Frage, warum es zur Spachentwicklung kam. Sie scheinen in der Hinsicht aber einen Schritt voraus zu sein. Sind Sie sich wirklich sicher, dass Sie nicht einiges von dem, was Sie eigentlich zu erforschen sich gerade erst aufmachen, bereits von vorn herein voraussetzen?

    Nebenbei bemerkt – sich gegenseitig aufzuschaukeln setzt voraus, dass man im gleichen Takt schwingt.

    Schauen wir uns doch einmal die neuen Forschungsergebnisse an, die Sie in einem anderen Blogbeitrag verlinkt haben. Da ging es darum, dass das menschliche Genom in den letzten 5000 Jahren offensichtlich enormen Veränderungen unterworfen war – trotz, oder vielleicht gerade wegen der gleichzeitig stattgefundenen kulturellen Entwicklung. Sie haben diese Ergebnisse sofort aufgegriffen, als ob sie Ihre Sicht der Dinge untermauern würden. Aber worum ging es da tatsächlich? Es ging um schnelle Fortschritte bei der biologischen Abwehr von Krankheiten. Menschen wurden aufgrund der zunehmenden Bevölkerungsdichte wesentlich stärker von Seuchen heimgesucht als in früheren Zeiten und es kam zu einem anscheinend sehr dynamischen Wettrüsten zwischen Krankheitserregern und Immunsystem. Hat sich die kulturelle Evolution daran beteiligt? Nein! Schamanistische Geisterbeschwörungen halfen nichts und ließen zu, dass es im Zuge wiederholter Massensterben zu gründlicher biologischer Selektion kam.
    Die entscheidende Fragestellung aus Ihrer Sicht sollte jedoch sein, was passiert wäre, wenn unsere Vorfahren bereits vor 5000 Jahren über kulturelle Lösungsansätze für die gleiche Herausforderung verfügt hätten (Antibiotika, Impfungen …). Wäre es dann auch zu dramatischen Veränderungen des Genoms gekommen oder hätte der medizinische Fortschritt die biologischen Anpassungsprozesse im Keim erstickt? Welche Art der Wechselwirkungen zwischen kultureller und biologischer Evolution ist eher die Regel und welche die Ausnahme? Das ist Ihre Fragestellung! Es ist eine interessante Fragestellung, zu der sie offensichtlich eine Hypothese beizutragen haben. Aber verwechseln Sie bitte diese Hypothese nicht mit Forschungsergebnissen.
    Ich habe mich schon vor 10 Jahren mit dem Ansatz des biokulturellen Feedbacks zur Erklärung der Evolution des menschlichen Gehirns auseinandergesetzt – damals anhand der von Friedeman Schrenk vertretenen Hypothesen. Ich sah deutliche Widersprüche zum archäologischen und paläoanthropologischen Befund und hatte auch aus logischen und evolutionären Erwägungen heraus einiges einzuwenden. Vielleicht sollten Sie sich das Ganze doch einmal ansehen (Das Zeitalter der Werfer, Kapitel 6: Die doppelte Evolution menschlichen Verhaltens S. 232-311).
    Was mich bei Ihnen stört ist der Ausschluß eines möglichen Funktionswechsels in der Vergangenheit. Sie argumentieren immer wieder, was heute eine kulturelle Funktion hat müsse sich auch als Anpassung an diese Funktion entwickelt haben. Genausogut könnten sie argumentieren, dass Federn von vorn herein fürs Fliegen entwickelt wurden und Extremitäten fürs Laufen.

  5. Umfassende Evolutionstheorie/ @ Balanus

    Da sind wir also wieder. Mir ist eben etwas lustiges eingefallen – Sie scheinen Ihren Wunsch nach einer “Umfassenden Evolutionstheorie” mit Richard Dawkins zu teilen. Er fasst nämlich Gene und Meme im Oberbegriff “Replikatoren” zusammen …
    Vielleicht haben Sie ja doch mehr gemeinsam, als Sie denken.

  6. @ Balanus

    Sie schrieben: Lustig, Herr Kirschmann hat spontan den gleichen Einwand gebracht wie ich seinerzeit (wenn ich mich recht erinnere).

    Nun, das könnte natürlich eine ganz normale Generationenverschiebung sein. 🙂 Bestimmt werde ich mich in einigen Jahrzehnten auch über die jungen Schnösel aufregen, die es wagen, vermeintlich eherne Grundsätze und Begriffe neu zu fassen. 🙂

    Wobei ich allerdings den Standpunkt vertrete, man könne, aus evolutionstheoretischer Sicht, die Begriffe “kulturelle” oder auch “biokulturelle Evolution” in die Tonne treten (um es mal drastisch zu formulieren). Weil sie den Blick auf eine einheitliche, umfassende Evolutionstheorie nur verstellen.

    Mmmh, da liegen wir gar nicht so weit auseinander. Der Fehler war ja wohl gerade, den (aus der Sprachwissenschaft stammenden) Evolutionsbegriff zu lange auf die Biologie zu beschränken, so dass es heute wieder notwendig ist, darauf hinzuweisen, dass z.B. auch Sprachen evolvieren (inkl. Stammbäumen etc.). Es gilt also auch wiederzuentdecken, was lange verschüttet war.

  7. @ Eduard Kirschmann

    Nein, weder im Hinblick auf die Evolution von Sprachfähigkeit und Sprachen, Musikalität und Musiken, Religiosität und Religionen etc. halte ich schon alle Fragen für beantwortet. Aber ich gehe davon aus, dass in allen diesen Fällen biologische und kulturelle Traditionen wechselwirkten – wie es übrigens auch schon Darwin selbst tat.

    Und die beschleunigte Evolution im menschlichen Genom geht selbstverständlich nicht nur auf die steigende Bevölkerungsdichte und Krankheitserreger zurück. Selbst diese sind ja nicht zu erklären ohne z.B. die (kulturelle!) Einführung von Viehzucht und Agrarwirtschaft – wären also auch schon klare Fälle von biokultureller Wechselwirkung.

    Hinzu kommen weitere klare Fälle wie z.B. die Ausbreitung von lebenslanger Laktosetoleranz (genetisch) in jenen Populationen, die seit Jahrhunderten Milchvieh halten (kulturell), die dunklere Haut der Inuit (genetisch), deren Vitamin D-Bedarf durch ihre spezifische Jagd- und Ernährungsgrundlage (kulturell) geprägt wird und schließlich natürlich die Auswirkungen von Migrationen (z.B. europäischer Siedler nach Australien, afrikanischer Sklaven nach Haiti etc.), die die genetische Zusammensetzung ganzer Populationen verändert und vermischt haben.

    Natur und Kultur lassen sich analytisch unterscheiden, aber in den Wechselwirkungen im Hinblick auf die Eine Welt nicht trennen. Jeder sprachliche, musikalische, religiöse (etc.) Ausdruck ist immer beides: natürliche Veranlagung und kulturelle Konkretion.

  8. @ E.Kirschmann: Nachtrag

    Noch ein Nachtrag zu Ihrem Thema. Obgleich ich Ihr (noch erhältliches?) Buch noch nicht gelesen habe, würde ich auch die Evolution des Werfens als einen Prozess biokultureller Wechselwirkung verstehen. Immerhin dürfte die Verfügbarkeit kultureller Produkte wie Wurfsteine, Speere, Schleudern etc. doch ihrerseits den Ertrag von Wurffertigkeiten verändert und so auf die biologischen Grundlagen rückgewirkt haben. Wie würden Sie das sehen?

  9. Umfassende Evolutionstheorie @Kirschmann/@Balanus

    In dem rezensierten Buch steht meiner Meinung nach der erste wirklich Erfolg versprechende Ansatz für eine solche umfassende und einheitliche Evolutionstheorie, nämlich Merschs Systemische Evolutionstheorie. Sie löst sich ganz von den Replikatoren und konzentriert sich stattdessen auf die Kompetenzen gegenüber dem Lebensraum. Bei Evolution geht es gemäß ihr um den Erhalt von Kompetenzen (Informationen, Anpassungen), egal ob die nun genetisch vermittelt werden, oder erworben wurden. Wichtig ist: Sie kennt im Grunde keine Selektion mehr. (!)

    Ich habe die Theorie (in enger Zusammenarbeit mit dem Urheber) vor ein paar Tagen in einen Knol integriert:
    http://knol.google.com/…stheorie/1gkbevzlim11a/1

    Die Theorie macht deutlich, dass man die biologische sehr wohl von der soziokulturellen Evolution unterscheiden kann. Allerdings gelten immer die gleichen drei Evolutionsprinzipien: 1. Variation, 2. Reproduktion, 3. Reproduktionsinteresse. Mit anderen Worten: Wir haben eine Evolutionstheorie, aber logisch trennbare Evolutionen, die jedoch gegenseitig aufeinander einwirken.

    Man beachte die sehr interessante, sich daran anschließende Diskussion, in die sich auch ein bekannter Biologie einbringt.

    Nachteilig an dem Konzept ist sicherlich dessen – im Vergleich zur Darwinschen Theorie – enorm hoher Abstraktionsgrad (obwohl der Urheber immer wieder auflockernde Anschauungsbeispiele einstreut). Ich kann aus eigener Erfahrung nur sagen: Man muss sich in den systemtheoretischen Ansatz erst mühselig hineindenken. Geschenkt wird einem dabei nichts.

    LG Lena

  10. Dualismuskritik /@M. Blume

    Herr Kirschmanns Einwand bezog sich nicht auf die inflationäre Verwendung des Evolutionsbegriffs (was nur ich und zwar zu Recht kritisiere), sondern auf die unklare Verwendung des Begriffs “Dualismus”, was ich seinerzeit ebenfalls kritisiert habe (und eigentlich auch heute noch tue).

    Denn einerseits unterscheiden Sie zwei parallel verlaufende Arten von Evolution (die biologische und die kulturelle), behaupten andererseits aber, es handele sich um einen einzigen Evolutionsprozess, nämlich den biokulturellen.

    Das halte ich für eine semantische Trickserei: Man gebe zwei verschiedenen Evolutionsprozessen einen eigenen Namen (weil sie interagieren), und siehe da, der Natur-Kultur-Dualismus verflüchtigt sich.

    Vermutlich lief die ganze Biokultur-Geschichte folgendermaßen ab:

    1. Irgendwer glaubt, Lernen und dessen Weitergabe an die nächste Generation ließe sich nicht mit den üblichen darwinschen Evolutionsprinzipien erklären.

    2. Man erfindet eine eigene “kulturelle Evolution”.

    3. Man bemerkt den damit etablierten evolutionären Natur-Kultur-Dualismus.

    4. Man vereinigt den biologischen und kulturellen Evolutionsarm zur biokulturellen Evolution.

    5. Man verkündet die Überwindung des dualistischen Denkens in der Evolutionsbiologie.

    Na prima, da sind wir evolutionstheoretisch ja ein ganzes Stück weitergekommen… 😉

    (sehe gerade Lena Waiders Beitrag und bin gesapnnt, um was es da im Einzelnen geht…)

  11. @ Balanus: Dualismuskritik

    Nun, wenn Sie es schon immer besser gewusst haben, braucht Sie die Kritik am Dualismus ja nicht zu kümmern. Sie können sich aber vielleicht kaum vorstellen, wie oft ich z.B. die Frage zu beantworten hatte, ob menschliches Verhalten, Musik, Sprache oder Religion denn nun Natur ODER Kultur entsprängen. Ob die Unterschiede zwischen Männern und Frauen biologisch ODER kulturell bestimmt waren. Ob der Mensch ein Natur- ODER Kulturwesen sei. Und ob man “geistige” bzw. “kulturelle” Phänomene wie die Religiosität überhaupt aus der Perspektive der Naturwissenschaften erkunden “dürfe”.

    Ich kann mir kaum vorstellen, dass Sie entsprechenden Fragen, Vorbehalten und Kontaktängsten nicht auch schon begegnet sind. Dass sie langsam zusammen brechen (u.a. auch durch Tagungen und Bände wie den besprochenen) freut mich sehr.

  12. @ Michael Blume: wie ich es sehe

    Nicht nur bei Menschen können Mechanismen, die auch bei der Entwicklung funktionaler Komplexität im Verlauf der kulturellen Evolution greifen, zu schnellen Verhaltensänderungen führen, die wiederum zu Verschiebungen der Genfrequenzen führen können. Denken wir da als illustrierendes Beispiel an Vögel, die lernen Milchflaschen zu öffnen. Oder meinetwegen auch an Menschenaffen, die lernen Nüsse nach der Hammer- und Amboß- Methode zu knacken.
    Derartige Übergänge zu neuen Selektionsbedingungen sind meines erachtens in der Regel rein kultureller Natur, weil die kulturelle Evolution wesentlich schneller Anpassungen hervorbringt als die organische (natürlich müssen sie im Rahmen dessen liegen, was die Biologie des betreffenden Tieres hergibt. Die Menschenaffen brauchen z.B. Hände für das Nüsseknacken – aber daraus folgt eben nicht, dass das Nüsseknacken eine Rolle bei der Evolution der Hände gespielt hat). Erst wenn es darauf hin dazu kommt, dass die statt gefundenen Verhaltensänderungen über viele Generationen hinweg Einfluß auf den Reproduktionserfolg ausüben ist dann auch mit dem Greifen genetischer Anreicherungsprozesse zu rechnen, die die neue Tätigkeit zum Teil der menschlichen Natur machen können.

    Beim Werfen war dies wohl der Fall. Die körperlichen (und neuronalen) Anpassungen an diese Tätigkeit zogen sich nach meiner Interpretation über mehrere 100 000 Jahre hin. Sie fingen spätestens beim Homo habilis an und dominierten funktional den Übergang zum Homo erectus, der irgendwo zwischen 2,0 und 1,7 Millionen Jahren vor unserer Zeit zu verorten ist. Die Art der geworfenen Wurfgeschosse blieb jedoch über den gesamten Zeitraum gleich, es waren Steine. Nach der Verhaltensänderung verabschiedete sich die kulturelle Evolution für rund 2 Millionen Jahre von der Bildfläche und lieferte erst vor ca. 400 000 Jahren (nach heutigem Erkenntnisstand) den nächsten Beitrag in Form der Speere von Schöningen. Man kann diesen Prozess natürlich als biokulturelles Feedback bezeichnen – ich habe nur den Eindruck, dass Sie sich die Wechselwirkung etwas anders vorstellen.
    Bei der Sprachentwicklung sah es wohl ähnlich aus. Mit den Anpassungen ans Werfen wurden (Vor-)Menschen zu Distanztieren und brauchten als soziale Lebewesen Mechanismen der sozialen Interaktion, die auch über Distanz greifen konnten. Sprache, Mimik und Gestik wurden dadurch schon seit 2 Millionen Jahren gefördert. Am Beginn der Sprachentwicklung gab es wohl im Zuge der Entwicklung einer Grammatik einen Schub kultureller Evolution – es folgten aber wieder fast 2 Millionen Jahre weitgehend ungestörter biologischer Anpassungen an die veränderten Umweltbedingungen, die das Sprechen zu einem Teil unserer Natur gemacht haben. Die Entwicklung der Musikalität könnte hier parallel verlaufen sein – und aus den gleichen Gründen. Erst beim Übergang zum modernen Verhalten des modernen Menschen wurden wir unter Nutzung der Sprachfähigkeit zu ausgesprochenen Kulturwesen (die Sprachfähigkeit an sich fasse ich also nicht als Anpassung an die Kulturfähigkeit auf). Von da an erfolgten kulturelle Veränderungen Schlag auf Schlag und es stellt sich die Frage, ob die Selektionsbedingungen für die Gene lange genug die gleichen Eigenschaften begünstigten um einen nennenswerten Beitrag zu den Anpassungsleistungen zu liefern.

    Bei der Entstehung der religiösen Traditionen, die mit dem modernen Verhalten des modernen Menschen aufkamen dürfte es sich um einen sehr dynamischen, rein kulturellen Übergangsprozess gehandelt haben. Und wenn Eigenschften der menschlichen Psyche für das Glauben “wie geschaffen” zu sein scheinen, dann würde ich es an erster Stelle mit dem Erklärungsansatz versuchen, dass hier die religiösen Überlieferungen an ein schon vorher bestehendes Merkmal des Menschen angepasst worden sind und nicht der Mensch an die Religiosität.

    Außerdem rechne ich für das moderne Verhalten des modernen Menschen damit, dass die “Ziele” (vorsicht Metapher!)biologischer und kultureller Evolution deutlich divergieren. Dies ist eine Konsequenz der größeren Gruppenverbände und der höheren Reichweite des memetischen Nepotismus im Vergleich zum genetischen Nepotismus. Wir haben infolge dessen ein höheres Maß an Kooperation innerhalb von kulturellen Gemeinchaften, als dies mit Hinblick auf genetische Interessen zu rechtfertigen wäre.

    Ach ja, da wäre noch die Frage, warum der Übergang zum modernen Verhalten des modernen Menschen statt gefunden hat. Gegenwärtig favorisiere ich die These, daß die Nutzung von Meeresressourcen entlang der Küste lokal zu höherer Bevölkerungsdichte und größeren Gruppen geführt hat. Infolge dessen kam es zu einer Verstärkung des “Zielkonflikts” (immer noch Metapher!) zwischen kulturellen und organischen Anpassungsleistungen und zur Anreicherung von Überlieferungen, die größere Gruppe stabilisierten – unter Vernachlässigung der Fortpflanzungsinteressen insbesondere dominanter Männer. Deswegen weisen egalitäre Gesellschaften viele kulturelle Anpassungen auf, die dafür sorgen, daß der angeborene Ehrgeiz dominanter Männer den Zusammenhalt der Gesellschaft nicht zerstört. Hier sieht man dann auch den ersten Widerspruch zwischen der Natur und der Kultur des Menschen. Es entwickeln sich gesellschaftlich funktionale, kulturelle Regeln, die dafür sorgen, daß Menschen sich im Widerspruch zu ihren biologischen Veranlagungen verhalten.

    Das ist jedoch nicht die Regel. In der Regel nutzt die kulturelle Evolution die biologischen Eigenschaften des Menschen, sie passt sich an seine Psyche und seinen Körperbau an – aber sie tut es nicht um den individuellen genetischen Fortpflanzungserfolg zu optimieren. Die kulturelle Evolution schreitet durch eigene Anreicherungsprozesse voran.

  13. @Michael Blume: Das Buch

    Lieber Herr Blume,

    jetzt habe ich vor lauter Theoretisieren das Wichtigste vergessen. Ja, im Prinzp sollte das Buch noch erhältlich sein.
    Eduard Kirschmann: “Das Zeitalter der Werfer – eine neue Sicht des Menschen”. ISBN 3-00-004783-2

  14. Michael Blume (Interdisziplinarität)

    @ Michael Blume:

    „Zu den bitteren Ironien unserer kulturellen Tradition gehört, daß wir einerseits die Welt in Gegensatzpaare aufspalten – und diese Spaltung dann beklagen. Entsprechend laut wird »Interdisziplinarität« von den Wissenschaften gefordert – und ebenso gerne die Nase über jene gerümpft, die die ehrwürdigen Gegensatzgrenzen zu überschreiten wagen. …. Manchmal frage ich mich, ob unsere Kultur ihr dualistisches Erbe so weit hinter sich lassen kann, daß ein tieferes Verständnis der zeitgenössischen Evolutionsforschung jenseits biologistischer Wir-sind-nur-Gene-Reduktionismen oder kulturalistischer Wir-sind-keine-Naturwesen-mehr-Flachbotschaften auch breitere Bevölkerungsschichten erreichen kann.“

    Man darf nicht vergessen, daß es letztendlich nicht so sehr darauf ankommt, ob mehr dualistisch oder mehr interdisziplinär gedacht und geforscht wird, denn beides ist in etwa von gleich großer Bedeutsamkeit. Heute ist sicherlich wieder mehr Intersiziplinarität anzustreben, aber dennoch darf man eben nicht vergessen, daß ohnehin der Weg von einem Monismus über einen Dualismus oder Trialismus oder Quadrialismus u.s.w. zum Pluralismus und von dort aus wieder zurück zu einem (neuen) Monismus führt, daß also jede Interdisziplinarität auch nur eine Etappe, eine „Station“ oder einen „Meilenstein“ auf diesem zyklischen Weg bedeutet. Die Spitze als die extremste Form des Pluralismus – um nicht zu sagen: des anarchistischen Chaos – markiert auch die Grenze zur Interdisziplinarität, und zwar sowohl vor als auch nach ihr – vor ihr wird noch und nach ihr wird wieder interdisziplinär gedacht und geforscht, und zwar so lange, bis die Interdisziplinarität ihrerseits (wieder) abgelöst werden muß.

    Wichtiger als die Methoden sind m.E. die Kompetenzen, und über die hätten die Autoren des von ihnen so gelobten Buches auch eine Menge zu sagen – beispielsweise dies: „Beim Prinzip der natürlichen Selektion handelt es sich um kein Basisprinzip der Evolution, sondern um eine zwangsläufige Konsequenz aus dem grundsätzlicheren Prinzip der kompetenzneutralen Reproduktionsinteressen.“ (Peter Mersch, Evolution, Zivilisation und Verschwendung, 2008, S. 138).

  15. WERFEN

    @ Michael Blume, 14.03.2010, 20:20
    @ Eduard Kirschmann, 15.03.2010, 09:30

    Zum „Werfen“ fällt mir ein im September 1998 in Geo Wissen (S. 43-47) veröffentlichter Aufsatz von Peter Sloterdijk ein.

    „Der Mensch ist das Tier, das nach seiner Herkunft fragt …. Die wichtigste Innovation auf dem Weg zum Homo sapiens dürfte ein Mechanismus gewesen sein, der dafür sorgte, daß beim Menschen die Selektion nicht länger, wie bei Tieren, über das Körperanpassungsprinzip verlief, sondern über das Körperausschaltungsprinzip – ein Theorem, das Paul Alsberg 1922 in seinem Buch „Das Menschheitsrätsel“ vortrug. Alsberg erklärte den menschlichen »Ausbruch aus dem Gefängnis« der biologischen Determination durch die Emanzipation von dem quasi allmächtigen Fluchtzwang, der die Prä-Sapiens angesichts gegenwärtiger Gefahren geprägt hatte. Der Weg zur Sapiens-Evolution wurde demnach dadurch frei, daß die frühen Hominidengruppen zunehmend vom Druck der Organanpassung entlastet wurden. Alsberg zufolge war es die Entdeckung der ersten Waffen und Werkzeuge – Stöcke und Steine -, deren zunehmender Einsatz um die Urmenschengruppen eine unsichtbare Demarkationslinie zog. Durch elementaren Waffengebrauch wurde das Prinzip Distanz zur Leitschiene aller späteren Hominisierungsprozesse. Asu dem Fluchttier entwickelte sich das Distanztier, aus dem Läufer der Werfer, aus dem Sammler und Ausweicher der Jäger und Angreifer.“ (Ebd.).

    „Man könnte so weit gehen zu sagen, daß die Menschen vom Werfen abstammen und daß sich in dieser raumschaffenden Urhandlung das Geheimnis der spezifisch menschlichen Umweltbeziehungen verbirgt. Im Homo sapiens verbirgt sich noch immer der Homo iactans – der Werfer-Mensch. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Faszination der Schußwaffen, die in der modernen Menschenkultur kultisch gefeiert werden, auf Reste alter stammesgeschichtlicher Prägungen zurückverweist. Die Verben des Werfens klingen bis in Grundwörter der philosophischen Terminologie nach, vor allem in den lateinischen Ausdrücken Subjekt, Objekt, Projekt – das Nach-unten-Geworfene, das Entgegengeworfene, das Nach-vorn-Geworfene – und in den griechischen Wörtern »symbolisch« und »diabolisch«, die auf die Gesten des Zusammenwerfens bzw. Durcheinanderwerfens deuten. Der Verzicht auf Würfe überhaupt wiederum erzeugt die Möglichkeit von Gelassenheit.“ (Ebd.).

    „Distanzierungsmittel – Wurfmittel, Schlagmittel, Berührungsmittel – sind also die ersten Medien des Menschen. Mit deren Gebrauch beginnt zugleich die Selbsterzeugungsgeschichte der Gattung. Sobald das Prinzip Abstand zu wirken beginnt, tritt der Vorgang der gruppeninternen Evolutionsfaktoren vor den Umwelt»einflüssen« in Kraft.“ (Ebd.).

    In engem Zusammenhang mit dem Alsberg-Theorem steht auch der kollektive „Selbstschutz-Effekt, der den in Horden lebenden Hominiden einen evolutionären nachhaltigen internen »Klima«vorteil verschaffte. Der permanente Gruppenschutz verbindet seine Wirkungen mit den archaischen Distanzmechanismen (Werfen, Schlagen, Laufen) zu einem hominisierenden auf humanisierenden Treibhauseffekt. Durch ihn werden die Prähominiden reif für die Insel des Menschseins. Hier werden erstmals kognitive und affektive Ruhezonen und Spielräume ausgebaut, hier wird Abstand zu Instinktprogrammen eingeschliffen, hier haben Probehandlngen und symbolische Ausdrucksgebärden erstmals Raum, hier vollzieht sich der Übergang von einfacher Lautproduktion zu Sprache, hier werden die weiblcihen Funktionen und Formen in bio-ästhetische Luxusevolutionen emporgetrieben, hier vollzieht sich der Übergang von den biologischen Statusbeziehungen zu den symbolisch codierten Strukturen der Verwandtschaft.“ (Ebd.).

    „Ohne die … »Insulation« gäbe es den spezifischen Sapiens-Raum nicht, in dessen Inneren das menschentypische Luxurieren von Sprache, Sexualität und Emotionalität freigesetzt worden ist. Allein in solchen Insulationsräumen wurde das biologische Wagnis möglich, Menschengeburten sozusagen »vorzuverlegen« und unvergleichlich unfertige, nachreifungsbdürftige Säuglinge an ein verfrühtes Licht der Welt zu bringen – ein Sachverhalt, den die Experten mit dem Ausdruck Neotenie umschreiben und der auf eine biologische Bedingung menschlicher Weltoffenheit hinweist.“ (Ebd.).

    „Es wird den Menschen zu allen Zeiten schwerfallen, völlig zu ermessen, in welchem Ausmaß ihre Kultur, ihre Solidarität und ihre Verwundbarkeit aus den Abenteuern der Frühgeburtlichkeit entspringen – und auch Anthropologen neigen dazu, die Bedeutung dieses Dramas zu unterschätzen, zummal es ein Verhältnis darstellt, das sich in fossilen Funden in keinerlei Weise materialisiert. Und schließlich hat sich in den Freiräumen und Emtlastungsinseln, die aus der Körpererausschaltung entsprungen sind, auch die Luxusevolution des Menschengehirns vollzogen, die den Homo sapiens als das »nicht festgestellte Tier« erscheinen läßt.“ (Ebd.).

    „Mit ihrem »vorauseilenden Gehirn« haben die Sapientes aus ihrer Frühzeit eine evolutionäre Reserve geerbt, bei deren Entfaltung sie ohne Zweifel erst am Anfang stehen. Die historische und ökologische Chance der Menscheit besteht darin, daß sie sich eines Tages auf die Höhe ihrer evolutionären Ausstattungen heben könnte. Die Menschen der künftigen technologischen Kulturen sind herausgefordert, eine neuronale Ethik zu schaffen, die von dem Axiom ausgeht, daß der Besitz eines Gehirns verpflichtet, sobald man zu ahnen beginnt, was es zu leisten vermöchte.“ (Ebd.).

    „Vielleicht kann sich bei der überfälligen Hebung des menschlichen Entwicklungsniveaus auch die philosophische Anthropologie nützlich machen. Sie fördert das exakte Staunen über das Tier, das nicht nur nach seiner Herkunft, sondern mehr noch nach seiner Zukunft fragt.“ (Ebd.).

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