Definition Zivilreligion

BLOG: Natur des Glaubens

Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Das Seminar zu religiösen und zivilreligiösen Traditionen in den USA hat begonnen – und die Beteiligung der Studierenden hat meine Erwartungen wieder übertroffen. Ein Schwerpunkt von Fragen und Diskussionen war die Frage nach den Definitionen von "Zivilreligion", von denen es sehr viele gibt und die oft sehr schwammig ausfallen.

Erfreulicherweise zeigt sich, dass eine Religionsdefinition aus der evolutionären Religionswissenschaft auch hier anwendbar ist: Demnach wird Religiosität definiert als (biologisch veranlagtes und kulturell ausgeprägtes) Verhalten zu überempirischen Akteuren, wie z.B. Ahnen, Geister, Bodhisatvas, Götter, Gott. Sie drückt sich aus in Narrativen (Mythen) und Symbolen, Ritualen, Gedenkfeiertagen und Emotionen.

Zivilreligion wäre demnach Religiosität im Rahmen politischer Vergemeinschaftungen wie z.B. von Staaten, Städten, politischen Bewegungen oder Parteien. Als überempirische Akteure werden beispielsweise Gründungsväter (selten auch -mütter), Helden, Opfer und Märtyrer und verschiedentlich auch Gott (meist in überkonfessioneller Form) angerufen. Wie andere religiöse Traditionen auch sind zivilreligiöse Traditionen dabei stets in Entwicklung, werden gefeiert, kritisiert, in verschiedenen Varianten interpretiert usw. Klassische Elemente umfassen Jahrestage mit emotional eingefärbten Symbolen, Reden (in deutlichen Anlehnungen an Predigten) und Ritualen.

Ein Beispiel aus Deutschland bilden die jährlichen Gedenktage für die Sozialisten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sowie weitere "Märtyrer" kommunistischer Bewegungen in Berlin. Dabei findet ein Dialog mit den Verstorbenen statt, die einerseits angesprochen und "vergegenwärtigt" werden, andererseits aber auch verpflichten ("Die Toten mahnen uns"). Eine feierliche Stimmung, Rituale und Symbole (wie das Ablegen von roten Nelken) und die Herstellung von politisch-zivilreligiöser Gemeinschaftlichkeit – auch über ethnische Hintergründe hinweg – werden zelebriert.

Da die USA ein von Anfang an ethnisch und religiös vielfältiger Staat ohne eine dominierende Staatskirche waren, konnten sich zivilreligiöse Traditionen dort unabhängiger, früher und stärker entfalten – und sind daher zu Klassikern der Forschung geworden.

Zentrale Elemente der US-amerikanischen Zivilreligion ist zum Beispiel die Amtseinsetzung (Inauguration) von US-Präsidenten, die voller (zivil-)religiöser Symbolik sind und bei jedem Amtsantritt auch neu interpretiert werden.

Sehr bedeutend ist aber auch Thanksgiving und die damit verbundenen Motive um die Pilgerväter und die Mayflower, die heute als "Gründungsvermächtnis" der Vereinigten Staaten gelten – aber erst im 18. Jahrhundert – während des Bürgerkrieges – auf Initiative einer Frauenbewegung durch Präsident Abraham Lincoln ritualisiert wurden.

Und, nein, auch zivilreligiöse Traditionen werden keineswegs nur von oben nach unten geplant und verordnet, sondern immer auch individuell ausgelegt, interpretiert und "verkündet", so dass sich verschiedenste Flügel und Trends ausbilden. Ein Beispiel gefällig? Hier sehen Sie, wie eine US-Amerikanerin Thanksgiving für sich und ihre Familie interpretiert sowie eigene Rituale vorschlägt.

Seminar-Vorlage 

Als Vorlage für Ausarbeitungen zu Einzelthemen hatte ich ein Paper "Die Religiosität der USA – Glaubensdynamik aus vier Faktoren" vorgelegt, das hier eingesehen werden kann:

ReligiositaetUSABlume1110.pdf

Und falls Studierende es als Vorlage benutzen möchte, hier auch als Word-Dokument:

ReligiositaetUSABlume1110.doc

Bin gespannt, was das Seminar noch bringt und hoffe, ggf. auch spannende (Be-)Funde berichten zu können. Jena rockt!

  • Veröffentlicht in: USA
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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

3 Kommentare

  1. @Michael Blume

    Da danke ich doch direkt für die Pdf-Datei!
    Kann ich gut für’s Selbststudium gebrauchen. 🙂
    Man mag es kaum glauben, aber mein “echtes Studium” leidet überhaupt nicht darunter, weil es ein tolles Logik-Training ist.
    Tolle Arbeit!
    Mit freundlichen Grüßen

  2. @Tim: Freut mich! 🙂

    Die Rückmeldung ist wertvoll – ich hatte nicht gedacht, dass das Thema auch übers Seminar hinaus interessieren könnte. Und vielleicht besteht ja auch die Chance, dass ein paar Arbeiten von Studierenden zugänglich gemacht werden können. Denn diese haben sich spannende Themen gewählt, die teilweise in deutscher Sprache noch gar nicht aufgearbeitet wurden. Auf das Seminarwochenende in Jena im Januar freue ich mich schon jetzt!

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